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Geld macht nicht glücklich. Warum eigentlich nicht? Die Nachrichten sind voll von den berechtigten Umverteilungsdebatten, der nachweislich fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, so wie von Diskussionen über die ebenso stark ausgeprägten kulturellen, ideologischen Differenzen. Auch der Spruch „Geld zu haben versetzt einem in die beste aller Lebenslagen, um auf angenehmste Art und Weise unglücklich zu werden.“, ist lediglich gelungene, aber doch nur rein formale Ironie.

Der Starke braucht den Schwachen, um stark zu sein, ist eine Binsenweisheit. Vielleicht liegt aber auch Gültigkeit im Umkehrschluss: Der Schwache braucht den Starken, um sein Schwachsein aushalten zu können, wenn er die Trübsinnigkeit seines Widerparts sieht. Eine wenig muntere These, schließlich stirbt, also lebt jeder in letzter Lebenskonsequenz für sich allein. Nun denn:

„Die Suche nach Identität qua Konsum von Dingen, Orten und Ereignisse muss scheitern. Der Versuch nach Emanzipation schlägt um in Abhängigkeit. Doch für das bürgerliche Bewusstsein kann nicht sein, was nicht sein darf. Schließlich beruht seine Ideologie ganz wesentlich auf dem Versprechen individueller Autonomie qua Fortschritt, Wohlstand und Produkterwerb und der Überzeugung, Ingenieur der eigenen Identität zu sein.

Die epochemachende Antwort auf dieses Dilemma gab Sigmund Freud: Nicht die gesellschaftlichen Umstände stehen dem Gefühl der Selbstidentität entgegen, es ist das Ich selbst. Oder genauer: Jenes Ich, das erst durch Erziehung, Wertevermittlung und Zivilisation anerzogen wird und sich wie ein Panzer über das eigentliche Ich legt.

Freuds Tiefenpsychologie verband somit die romantisch-protestantische Innerlichkeitskultur des Bürgertums mit den ideologischen Grundlagen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung: Ursache psychologischer Verwerfungen ist nicht etwa das ökonomisch-technische System, sondern die Psyche des Individuums, die entsprechend einem Prozess der Selbstoptimierung unterzogen werden muss.

Die Folge ist eine nachhaltige Psychopathologisierung des Lebens. Die narzisstische Nabelschau einschließlich der Therapie eingebildeter Probleme gerät zu einem Leitmotiv westlicher Wohlstandsgesellschaften. Man suhlt sich in seinen Befindlichkeiten und beschäftigt sich vorzugsweise mit dem eigenen Innenleben. Eigentliches Ziel ist es, einen Schuldigen zu finden, also jene Personen oder Ereignisse zu identifizieren, die verantwortlich dafür sind, dass man nicht bei sich selbst ist.

Es entsteht eine ganze Industrie von Beratern, Therapeuten, Analytikern und Coaches, die dem nach sich selbst suchenden Selbst den Weg aus dem Irrgarten unbewusster Blockaden und Hemmungen weisen sollen. Das Karussell narzisstischer Selbstbespiegelung dreht sich immer schneller und schneller. Ursache des jeweiligen Unwohlseins ist nicht etwa die eigene infantile Persönlichkeitsstruktur, die das selbstmitleidige Ich von Regression zu Regression treibt, sondern - wahlweise - die Eltern, die Schule, der Partner oder die Gesellschaft.“

Alexander Grau, Entfremdet - Zwischen Realitätsverlust und Identitätsfalle

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Gelungener „Tatort-Abend“ aus Dortmund am gestrigen Sonntag! Kommissar Faber erkundigt sich da unter anderem nach einer im Grunde sehr privaten Angelegenheit eines seiner Kollegen. Und bevor der Zuschauer da eine gewohnt typische Übergriffigkeit Fabers erkennt, fährt dieser mit der Bemerkung fort, er erkundige sich rein dienstlich, denn ja, für die nächste nicht ungefährliche Aktion, müsse er eben kraft Amtes wissen, wie es dem Kollegen gehe, ob er dem - das unausgesprochen - emotional gewachsen sei, was beruflich jetzt anstehe.

Man kennt die eindeutigen Mobbingsituationen am Arbeitsplatz. Ist man selbst nicht betroffen, sind die unterschwelligen Gegebenheiten jedoch weitaus interessanter: Normalerweise, und das ist auch gut so, gilt die informelle Regel der Trennung von beruflicher zur privaten Lebenswelt. Jeder von uns wird Arbeitskollegen nennen können, denen man privat lieber aus dem Wege geht. Und außer der Ursprungsfamilie, suchen wir uns fürs Private die Mitmenschen freiwillig nach Neigung, Freundschaft und Sympathie, seltener, aber um so schöner nach Liebe aus.

Dann gibt es auch den bekannten Sachverhalt, seitens Kollegen in deren Erwartungshaltung uns gegenüber gleichfalls wie ein Roboter bei der Arbeit funktionieren zu müssen - in jeder inneren, situativen Verfasstheit. Das daraus folgende Schema ist, nicht die Ablehnung, die Gleichgültigkeit wird als weitaus verletzender empfunden.

„Vergiss nicht, dass jede schwarze Wolke eine dem Himmel zugewandte Sonnenseite hat.“

Friedrich Wilhelm Weber

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Von Friedrich Nietzsche stammt der Ausspruch „Wahrheit ist das, was dem Leben nützt.“ Schwer verständlich, dass die Lügen z. B. eines Donald Trumps sich immer wieder in politisches Gold verwandeln, ohne ihm zu schaden. Die Wiederholungen seine Lügen machen die Sache nicht hinfällig, nein im Gegenteil, sie nützen seinen Ambitionen fortlaufend.

Als einer der skrupellosesten Machtmenschen der Geschichte gilt der englische König Richard III aus dem 15. Jahrhundert, verewigt als Titelfigur eines Theaterstückes von William Shakespeare. Die Forschung hat inzwischen bewiesen, dass dies bestenfalls eine grobe Verzerrung, schlimmstenfalls aber einer kompletten Charakterumkehrung gleichkommt.

 

22.August 1485, Bosworth (Mittelengland):

„Eine Bilanz von drei Jahrzehnten Krieg, es ist die Bilanz eines Siegers: Henry Tudor, Earl of Richmond. Soeben hat er in der Schlacht zu Bosworth den finsteren König Richard III. getötet. Es ist die Bilanz des Grauens und eine Darstellung von historischen Tatsachen. Aber auch und vor allem sind es Tatsachen auf den Brettern einer Bühne, irgendwann um 1595, mehr als 100 Jahre nach dem dargestellten Triumph und viele Jahrzehnte nach dem Tod des neuen Königs. Es sind nun ausgedachte Sätze, Verse aus einem Theaterstück namens ‚Richard III‘, von einem Mann namens William Shakespeare. Von einem Großdichter, der das Bild einer ganzen Epoche prägt. Und im Dienste der KönigInnendynastie der Tudors – eine beauftragte Propagandaschrift.

Denn natürlich ist Shakespeares Geschichte jener ‚gräulichen Entzweiung‘, die unter dem Namen ‚Rosenkriege‘ ins kollektive Gedächtnis eingehen wird, kein dokumentarisches Protokoll. Sie ist eine Fiktion. Doch diese Fiktion erweist sich als so stark, dass sie sich in eine neue Wirklichkeit verwandeln wird – die irgendwann praktisch niemand mehr zu bezweifeln wagt.

Jahrhunderte später werden moderne Psychologen das Phänomen der ‚falschen Erinnerung‘ entdecken: Menschen speichern Vorgänge auch dann als Erlebnisse im Gedächtnis ab, wenn sie nie geschehen, sondern ihnen nur erzählt worden sind. Dass eine Person einmal als Kind auf einem Jahrmarkt die Mutter verloren hat, dass sie auf Reisen von einem Hund angegriffen wurde – es braucht nur ein paar anschauliche Worte und stete Wiederholung, um einen erfundenen Vorfall zum festen Bestandteil der eigenen Biografie zu machen.

Denn Worte sind der Stoff, aus dem Geschichte entsteht. Und niemand findet so kräftige, klangvolle und treffende Worte wie William Shakespeare. Niemand jongliert so kühn mit Anspielungen, malt so farbensatte Bilder. Und kein Lautsprecher kann diese Worte so machtvoll verstärken wie das Theater.

Das Theater ist in Shakespeare Tagen das Leitmedium der Epoche. Eine Massenkultur, eine Realitätsfabrik mit gewaltiger Produktivkraft.“

GeoEpoche, Die Rosenkriege

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Das Diätprogramm vielleicht noch voll im Gang, da kommt der Frühling auch meteorologisch schon um die Ecke, ersehnt, aber auch womöglich verfrüht, wenn assistierend die bange Frage mit dem Blick in den Kleiderschrank, zuvor den in dem nichts beschönigendem Spiegel: Bin ich modetechnisch gerüstet für die sonnenhellste Zeit des Jahres?

„Die Dame in Berlin und Wien trägt in diesem Frühjahr Altägyptisch. Die Farben der Saison sind Blau, Rot, Schwarz und Gelb, doch kann das Gelb auch Gold sein. Weg mit der Krinoline (ein steifer und strukturierter Petticoat, der dazu dient, den Rock einer Frau zu halten), deren Comeback bevorzustehen schien, weg mit allem Glockigen und Rundlichen, schreiben die Zeitungen, die neue Mode fordert lange und schlanke Kleider, auch von solchen Trägerinnen, die selbst weder lang noch schlank sind.

Tutanchamun sei herabgestiegen, meldet Mizzi Neumann im ‚Neuen Wiener Journal‘, das Resultat sei der seidene Trikotjumper für das sportliebende Girl. Starke Beachtung findet der Tutanchmun-Jumper - ein Pullover - aus gelben Seidentrikot, aber auch andere Modelle in ihrer leuchtenden Farbenpracht speziell zu weißen Wollröcken und Strickkostümen.

Seit der englische Mumienschürfer Howard Carter im November vergangenen Jahres im Auftrag seines Geldgebers Lord Carnarvon am Nil im Tal der Könige das fast unberührte Grab des Pharaos Tutanchamun samt kostbaren Beigaben entdeckt und der Weltöffentlichkeit von dem sensationellen archäologischen Fund erfahren hat, ist über Europa eine Tutanchamun-Welle hereingebrochen.“

Christian Bommarius,   Im Rausch des Aufruhrs  Deutschland 1923

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Folgender Auszug wurde weit vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geschrieben. Wie da argumentiert wurde, hat aktuell bedingt Gültigkeit mit Nachdruck:

 „Die Angst vor einem noch verheerenderen, weil von Anfang an mit Atomwaffen ausgetragenen Dritten Weltkrieg war berechtigt. ……

…… Weite Teile der westdeutschen Friedensbewegung (in den frühen 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts) waren jedoch auf dem östlichen Auge blind. Bis heute ist mir schleierhaft, wie man in den Jahrzehnten des ‚Kalten Krieges‘ amerikanische Atomwaffen für eine größere Bedrohung des Weltfriedens halten konnte als die tödlichen Arsenale auf sowjetischer Seite. Allzu oft wurden die legitimen Anliegen der west-deutschen Friedensbewegung für antiamerikanische Agitation missbraucht. ……

…… Ich nenne diese Haltung ‚Vulgärpazifismus‘. Wenn zeitgenössische deutsche Pazifisten ihre friedliche Gesinnung in erster Linie damit begründen, dass militärische Abstinenz der sicherste Weg sei, terroristische Bedrohungen von Deutschland fernzuhalten, ist dies nicht nur erbärmlich feige.

Wie wir in den vergangenen Jahren mehrfach erfahren mussten, ist es auch falsch. Wer es mit diesem Pazifismus ernst meint, muss bereit sein, nach jedem erhaltenen Schlag die andere Wange hinzuhalten. Jesus mag der Ahnherr abendländischer Friedfertigkeit sein, der Begründer und Verteidiger der europäischen Demokratie und der Menschenrechte war er nicht.

Verfassungspatriotismus muss beinhalten, seine Werte im ‚Ernstfall‘ auch militärisch zu verteidigen.“

Thea Dorn,   deutsch, nicht dumpf    Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten

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Man kennt es, das dauernde Werten, Urteilen über Dinge, über Menschen, deren Verhalten. Jederzeit eine Meinung! Dieses Vorgehen geschieht meistens zwischenmenschlich – geht aber auch in dieser individuellen Variante:

„Warum drängt es die Gegenwart ständig, über die Vergangenheit zu urteilen? Sie muss ziemlich neurotisch sein, diese Gegenwart, die sich der Vergangenheit überlegen fühlt und dabei die nagende Furcht nicht loswird, dass sie es womöglich doch nicht ist.

Und dahinter steckt eine weitere Frage: Woher nehmen wir uns das Recht zu einem Urteil? Wir sind die Gegenwart, das ist die Vergangenheit: In der Regel genügt das den meisten von uns. Und je ferner die Vergangenheit rückt, desto reizvoller wird es, sie zu simplifizieren. Wir können ihr vorwerfen, was wir wollen, sie wehrt sich nie, sie bleibt immer stumm."

Julian Barnes, Der Mann im roten Rock

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Es sind solche Sätze, warum ich den sogenannten Qualitätsjournalismus - auch unabhängig der politischen Richtung - schätze: „Es gehörte immer zum Geschäftsmodell des Medienimperiums Springer, die Würde des Menschen anzutasten.“ (Süddeutsche Zeitung, 15.04.2023)

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Unsere Lebenserwartung entwickelt sich als Spezies umgekehrt proportional zur Macht unserer Technologien, glaubt der KI-Forscher Michal Kosinksi, denn die Menschen seien eine sehr empfindliche Spezies.

„Es gibt uns (Menschen) noch nicht so lange. Da gab es sehr viel robustere Spezies, die Millionen von Jahre gelebt haben. Die haben sich nicht von Technologien wie Feuer und Werkzeugen abhängig gemacht. Bei uns Menschen reicht es, dass man uns die Elektrizität wieder wegnimmt. Das wäre schon unser Ende.“

Michal Kosinksi, Professor für Organisationsverhalten (Stanford Universität)

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Nietzsche fand Darwins Theorie falsch, nach der die Starken über die Schwachen siegen würden. In seinen Augen geschah genau das Gegenteil, triumphierte die Masse über die Ausnahme. ….

Anpassung an die Umwelt war einerseits Schwäche, minimale Selbstbehauptung durch maximale Selbstverleugnung, andererseits Stärke, maximale Selbstbeherrschung durch minimale Selbstaufgabe. Mit diesem sozialpsychologischen Trick hatte das Christentum als Religion der Schwachen den Sieg über die heidnische Kultur der Stärke davongetragen, statt unterzugehen.

An der Macht gelangt, predigten die Priester, die Führungskader einer erfolgreichen Organisation, Nächstenliebe und Barmherzigkeit, um ihre Herrschaft zu erhalten.

Den Politikern, so ließe sich die These der Herrschaft durch geforderte Selbstrelativierung fortsetzen, gelang der Erhalt des bürgerlichen Staates, indem sie demokratisches Engagement im Rahmen der Verfassung und die Unterwerfung unter den Wählerwillen der Mehrheit predigten. 

Eberhard Rathgeb, Die Entdeckung des Selbst

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Gestern lief im Fernsehen eine Dokumentation mit dem Titel „Schweigen und Vertuschen: Die Todsünden der katholischen Kirche“.

Heute lese ich im Buch über die 1848 Revolution „Die Flamme der Freiheit“ von Jörg Bong über Amalie und Gustav Struse: Das Paar konvertiert, eigentlich evangelisch, zum progressiv-utopischen Deutschkatholizismus, der eine Synthese aus Katholizismus, Protestantismus, Judentum und moderne Wissenschaft sucht und bei dem auch Frauen wählen und kirchliche Posten besetzen dürfen.

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Lesen heißt, mit einem fremden Kopf statt dem eigenen zu denken.

Arthur Schopenhauer

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